EuGH: Möglichkeit des Vorsteuerabzugs auch ohne Rechnung

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

bisher geht die deutsche Finanzverwaltung strikt davon aus, dass der Besitz einer Rechnung eine zwingende Voraussetzung für die Ausübung des Vorsteuerabzugsrechts ist (Abschn. 15.2 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 UStAE; BMF-Schreiben [Entwurf] vom 15.10.2018, III C 2 – S 7286-a/15/10001:003).



Sodann hatte sich der EuGH in der Vergangenheit bereits mehrfach mit der Bedeutung der Rechnung für den Vorsteuerabzug beschäftigt. Erleichterungen und rückwirkende Rechnungsberichtigungen sind verabschiedet worden (EuGH vom 15.9.2016, Senatex, C-518/14, zeitstaerken.PLUS: CD 0500 0015 2016 0013; EuGH vom 15.9.2016, Barlis, C-516/14, zeitstaerken.PLUS: CD 0500 0015 2016 0018). Der Neutralitätsgrundsatz steht im Vordergrund und darf insbesondere durch formelle Mängel ohne Anfangsverdacht auf eine Steuerhinterziehung nicht konterkariert werden.



Jetzt veröffentlichte der EuGH einen weiteren Meilenstein in dieser Entwicklung (EuGH vom 21.11.2018, Vadan, C-664/16). Ein Vorsteuerabzug ist - bei Erfüllung der notwendigen Nachweispflichten - auch ohne oder mit fehlerhaften Rechnungen möglich. Neu an der EuGH-Entscheidung ist vor allem die Aussage, dass die strikte Anwendung des formellen Erfordernisses, Rechnungen vorzulegen, gegen die Grundsätze der Neutralität und der Verhältnismäßigkeit verstößt.


Sachverhalt:

Ein rumänischer Unternehmer verkaufte Wohnimmobilien und Grundstücke. Hinsichtlich der Eingangsleistungen für die Errichtung der verkauften Gebäude erhielt der rumänische Unternehmer lediglich Kassenzettel, die aufgrund der schlechten Qualität der verwendeten Druckerschwärze inzwischen unleserlich geworden waren. Der Unternehmer hatte sonst keine Bücher geführt. Die rumänische Steuerbehörde versagte den Vorsteuerabzug aus den Eingangsleistungen. Das nationale rumänische Finanzgericht wollte zwei Fragen vom EuGH beantwortet wissen:

  1. Ist der Unternehmer auch ohne die Vorlage von Rechnungen zum Vorsteuerabzug berechtigt?
  2. Darf der Umfang des Vorsteuerabzugsrechts durch Schätzung in einem gerichtlich angeordneten Sachverständigengutachten ermittelt werden?

Der EuGH antwortet:

  1. Der Unternehmer muss für das Recht auf Vorsteuerabzug tatsächlich eine Leistung empfangen haben (Nachweispflicht), die er für Zwecke seiner (umsatz-)besteuerten Ausgangsumsätze verwendet (materielle Voraussetzung).
  2. Grundsätzlich muss eine Rechnung vorliegen (formelle Voraussetzung).
  3. Besonderheit: Auch dann, wenn lediglich die materiellen Voraussetzungen erfüllt sind, bestimmte formelle Voraussetzungen aber fehlen, sei der Vorsteuerabzug zu gewähren. Der Vorsteuerabzug darf nicht verweigert werden, wenn eine Rechnung nicht alle Rechnungspflichtangaben enthält, aber die Finanzbehörde über sämtliche Daten verfügt, um zu prüfen, ob die materiellen Voraussetzungen vorliegen.
  4. Der EuGH geht davon aus, dass die „strikte Anwendung des formellen Erfordernisses, Rechnungen vorzulegen, gegen die Grundsätze der Neutralität und Verhältnismäßigkeit“ verstößt. Dem Steuerpflichtigen würde andernfalls auf unverhältnismäßige Weise die steuerliche Neutralität seiner Umsätze verwehrt. Durch „objektive Nachweise“ müsse der Unternehmer gleichwohl belegen, dass die (materiellen) Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug erfüllt sind.
  5. Der EuGH hat in der Frage zu den Nachweispflichten ein weites Verständnis. Demnach genügen u. a. auch Unterlagen im Besitz des Liefernden. Der Unternehmer braucht also keine spezifisch an ihn adressierten Unterlagen vorzuweisen. Eine Schätzung in einem gerichtlich angeordneten Sachverständigengutachten kann die objektiven Nachweise nur ergänzen, nicht aber ersetzen.

Lösung:

Die erforderlichen Nachweispflichten hat der Unternehmer nicht erfüllt, da die vorgelegten Dokumente unleserlich waren und nicht ausreichten, um zu bestimmen, ob und inwieweit ein Vorsteuerabzugsrecht zusteht. Durch ein gerichtlich angeordnetes Sachverständigengutachten ist dieser Mangel nicht zu beseitigen.


Quintessenz: Damit stellt der EuGH erstmalig klar, dass der Steuerpflichtige für den Vorsteuerabzug nicht zwingend eine Rechnung besitzen muss.

Hinweis: Für den Unternehmer ist dies - also Rechnung vorlegen zu können - vorteilhaft, weil er dadurch die erforderlichen Nachweise am einfachsten erbringt.

Beratung: Unternehmern, denen die Finanzverwaltung den Vorsteuerabzug mangels Rechnungen versagt (hat), sollten daher prüfen, ob sie nicht auch ohne Rechnungen die (materiellen) Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug durch objektive Nachweise belegen können.


Anwendungsbeispiele:

Beispiel 1: Die Telekommunikations-Rechnungen werden grundsätzlich per PDF dem Unternehmer zugesandt. Der Unternehmer archiviert die Eingangsnachricht und speichert die PDF-Rechnung hinter der Rechnung oder in einem Archiv ab. In der Umsatzsteuer-Nachschau stellt das Finanzamt fest, dass im laufenden Jahr zwei Rechnungen nicht auffindbar sind. Lösung: Der Unternehmer kann durch Einzelgesprächsverzeichnisse, Gesprächsnotizen und Bankabbuchungen für diese Nutzungszeiträume die Nutzung des Telekommunikationsvertrages nachweisen. Die Mitarbeiter des Unternehmens bestätigen die Nutzung der Telefonanlage, wodurch der tatsächliche Leistungsbezug im Unternehmen nachgewiesen wird.



Beispiel 2: Eine Eingangsrechnung einer unstreitig umsatzsteuerpflichtigen Eingangsleistung (19 %) ist nicht mehr auffindbar. Die Bankbezahlung in Höhe von 11.900 € liegt vor. Bestellbestätigungs-E-Mail und Lieferschein liegen vor. Lösung: Nach der Sichtweise des EuGH sollte der Vorsteuerabzug gewährt werden, weil der Leistungsbezug usw. durch andere geeignete Unterlagen nachgewiesen werden kann.




Ihr Team zeitstaerken.de

StB Jürgen Hegemann / StBin Tanja Hegemann